9.2.15



[In: Johannes Fried (Hg.): Die Welt des Mittelalters, Erinnerungsorte eines Jahrtausends, 2011, 100-112.]

Die Kathedrale

Die Kathedrale ist wie die Architektur der Gotik ein Geschenk Frankreichs an Europa. Ihre hohen, lichtdurchfluteten Räume faszinieren noch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung Christen ebenso wie Nichtchristen. ‚Die‘ Kathedrale ist zum Inbegriff mittelalterlicher Sakralbaukunst, aber auch zum Mythos geworden. Dabei ist sie zunächst nichts anderes als der Sitz eines Bischofs, d.h. seiner ‚Kathedra‘. Jede Bischofskirche ist von ihrer Definition her eine Kathedrale, egal wie groß sie ist, aus welcher Zeit sie stammt oder wo und in welchem Stil sie errichtet wurde. Im Sprachgebrauch jedoch wird diese Bezeichnung auf die französische Bischofskirche der Gotik beschränkt. In den anderen Sprachen ist die Benennung weniger präzise: Im Deutschen spricht man vom Kölner Dom (von domus=Haus) und vom Straßburger Münster (von monasterium=Kloster), obwohl beide eigentlich Kathedralen sind. Diese deutschen Bezeichnungen sind auch keineswegs für Bischofskirchen reserviert: Der Altenberger Dom (bei Köln) war immer eine Zisterzienser-Abteikirche und das Ulmer Münster immer Stadt-Pfarrkirche. Andererseits wird man den ‚Kaiserdom‘ in Speyer nur ungern eine Kathedrale nennen wollen, obwohl er das ist, ebenso wenig das Bonner Münster, das für fünf Jahrhunderte dem aus Köln verdrängten Erzbischof als Kirche diente.
Im Folgenden soll nur das Nötigste zum Verständnis dieses Bautypus skizziert werden.[1] Ein Bischofssitz bestand im 12. Jh. meist aus einer Kirche, in Paris z.B. aus St.-Etienne (Stephanus) für den Bischof, Notre-Dame (Maria) für das Kapitel und der Taufkirche St.-Jean (Johannes der Täufer). Sie lag in einem ummauertern Bezirk mit Hospital, Gericht, Schul- und Amtsräumen¸ Wohnhäusern, Läden und Schänken. In ihm wirkte neben dem Bischof das Domkapitel mitsamt den Vikaren bzw. Kaplänen und dem Kleriker-Nachwuchs. Die Domherren waren für die Durchführung der Liturgie zuständig, für den Unterricht an der Domschule und für die Errichtung und Erhaltung der Kathedrale. Damals entschloss man sich in fast allen Bistümern, nur eine, dafür aber umso größere Kathedrale zu errichten. In ihr gab es für Bischof und Kapitel sowie die angegliederten geistlichen Institutionen eigene Räume und Orte. Sie war keine Kirche für den täglichen Bedarf; hier wurde nicht geheiratet und nicht getauft. Dies erscheint angesichts einer Aufnahmefähigkeit für mehrere tausend Menschen unglaubwürdig. Die Größe erklärt sich jedoch aus dem damaligen Brauch, alle Gläubigen einer Diözese am Hochfest des Diözesanpatrons und anderen hohen Feiertagen in die Kathedrale einzuladen. Sie war also eine Art Festtagspfarrkirche für die gesamte Diözese, und sie war die Mutterkirche des Bistums und Vorbild für seine Kirchenbauten – auch im baukünstlerischen Sinne –, die jedoch als untergeordnet erkennbar bleiben mussten.
Kathedrale und Gesellschaft waren nicht zu trennen: So durfte die Zunft der Tuchfabrikanten und -händler in Amiens die der Muttergottes geweihte Achskapelle im Chorumgang als Zunftkapelle nutzen. Damit stellten sie ihre ökonomische und politische Macht zur Schau. Überhaupt wurde die Kathedrale als Gemeinschaftsaufgabe verstanden, die König, Klerus und Volk einte. Als im Jahre 1218 die Amienser Bischofskirche abbrannte, rief der Bischof Klerus und Volk zusammen. In der damals aufgesetzten Urkunde heißt es: „Aufgrund unserer Sünden erlaubte Gott die Zerstörung unserer Kirche… zu unserer Besserung.“[2] Daraufhin gelobten alle Anwesenden, sie größer und schöner wiederaufzubauen (Abb.1).
Wir haben Nachrichten, dass sich Laien aus allen Ständen und in großer Zahl betend und singend an den Fundamentierungsarbeiten beteiligten und anderweitig zum Kirchenbau beitrugen. Doch ist es ebenso mittelalterlich, wenn sich Stadtrat und Klerus in Straßburg darüber stritten, wer die Einnahmen aus der Vergabe der Standplätze für die im Münster auf Freier wartenden ‚Münsterschwalben‘ erhalten sollte.[3]
Weltlich ist auch der Ehrgeiz, die Nachbarn übertrumpfen zu wollen. In der Chronik der Bischöfe von Auxerre ist zu lesen: „Zu dieser Zeit brannte die Frömmigkeit des Volkes darauf, neue Kirchen zu errichten. Als nun der Bischof … sah, dass seine Kathedrale von alter und wenig geordneter Architektur an Schmutz und Altersschwäche litt, während rundherum andere Kathedralen ihr Haupt in wunderbarer Schönheit erhoben, beschloss er, seine Kirche mit einem neuen Bau und der höchsten Kunst der in der Baukunst Kundigen zu schmücken, damit sie den anderen Kirchenbauten nicht an Aussehen und Bemühung ungleich sei.“ Er ließ sie abreißen, damit sie „nach Ablegung des Schmutzes ihrer Altertümlichkeit zu einer eleganteren und neueren Art verjüngt werde.“[4]
Die gotische Kathedrale wird einer besonderen historischen Konstellation im französischen Kronland verdankt. Bis zum 12. Jahrhundert waren die Leitmodelle des Kirchenbaus die großen Kloster- und Stiftskirchen, vor allem der benediktinischen Reformorden der Cluniazenser und Zisterzienser. Damals war das französische Königshaus im Vergleich zu seinen Nachbarn sehr schwach. Kaum zehn Kilometer westlich vor den Toren von Paris begann das Herrschaftsgebiet der Könige von England und Herzöge der Normandie, im Osten das der Grafen von Champagne. Doch wussten die französischen Könige, ihre Lehenshoheit und Rechte an den meisten Bistümern des alten Frankenreichs zu nutzen und brachten das Land nach und nach wieder unter ihr Zepter. Dabei half ihnen die Koalition mit der Kirche, Teilen des niederen Adels und dem Volk gegen die mächtigen Fürsten. Obendrein gewährte er im Investiturstreit den Päpsten über viele Jahre Exil und vermochte sich so als Beschützer der Kirche zu profilieren.
Das Zeitalter der Kathedralen ist gekennzeichnet durch ökonomische und technische Expansion, durch die Reorganisation der Verwaltung, schnelles Wachstum der Städte, die Vertiefung der Theologie und die Gründung der Universitäten. Die umfangreichen Bildprogramme der Portale außen und der Glasfenster innen dienten der Belehrung und Erbauung der Gläubigen. Das Bauwesen wurde arbeitsteilig reorganisiert und rationalisiert; die Einführung der beheizbaren Bauhütte ermöglichte die Vorfertigung der Steine im Winter, was das Bautempo erheblich beschleunigte. Die Einführung der maßstäblich verkleinerten Planzeichnung verbesserte die Planung und führte zur Intellektualisierung des Entwurfs. So wandelten sich die Baumeister von Steinmetzen zu hochangesehenen und -bezahlten Architekten. Durch die wechselseitige Steigerung aller Kräfte wurde dies eine der innovativsten Epochen der europäischen Baugeschichte. Sie hatte ihren Höhepunkt im Zeitalter König Ludwigs IX. des Heiligen, und sie endet in Frankreich mit dessen Tod im Jahre 1271. Danach zerbrach die Koalition der Kräfte, die diese Riesenbauten ermöglicht hatte. Die vorher überreich fließenden Geldströme versiegten. Die Kosten fehlgeschlagener Kreuz- und Eroberungszüge belasteten das Volk; auch der Klerus verarmte durch die Erhebung mehrerer Kreuzzugs-Zehnten und anderer Steuern. Kurz: Die Bauarbeiten an den Kathedralen und den zahlreichen anderen, in Angriff genommenen Kirchenbauten schleppten sich dahin; viele wurden nur notdürftig vollendet – man verzichtete auf Türme und Turmspitzen. Das Zeitalter der Kathedralen in Frankreich war zu Ende – es hat kaum mehr als 100 Jahre gedauert.
Die älteste nicht-französische Kathedrale ist der Neubau von Canterbury, des Sitzes des Primas von England, nach dem Brand von 1174. Andere englische und normannische Bauten folgten, bald darauf auch spanische und niederländische. In Deutschland entstanden Kathedralen erst seit dem Niedergang des staufischen Kaiserhauses: Im Jahr 1248 wurde der Grundstein zum Kölner Domneubau gelegt (Abb.#). Obwohl er als Perfektion der Kathedralgotik bezeichnet werden kann, ist er doch von einem anderen Geist beseelt. Die Initiatoren waren ein ehrgeiziger Erzbischof und ein Domkapitel, das von in Paris studierten Domherren bestimmt wuede. Man vollendete nur Chor und Sanktuarium, weil mehr für den Gebrauch der Domherren nicht notwendig war. Die Kölner Bürger und die Pilger zu den Reliquien der Hl. Drei Könige duldete man nur, weil man ihr Geld benötigte; aber ein Mitspracherecht wurde niemandem eingeräumt, erst recht seitdem der Erzbischof ins Bonner Exil gezwungen worden war.
Im elsässischen Straßburg, der Hauptstadt des Südens, waren es die Bürger, die ihren Bischof im Jahre 1262 aus der Stadt und seiner Kathedrale vertrieben. Sie eigneten sich die Rechte über die Domfabrik an und machten das Münster zu einer städtischer Versammlungsstätte: Vom Lettner wurden die Bestimmungen und Verordnungen des Rates verlesen. Das Münster wurde zum Treffpunkt für alle. Zum Ausdruck ihres Stolzes errichteten die Straßburger eine Westfassade von schwindelerregender Höhe mit dem größten Rosenfenster Europas überhaupt, das so hoch angebracht war, dass man von innen die Bilder nicht mehr erkennen kann. Überhaupt ging es mehr um ihre Außenwirkung, weshalb die Außenseite viel reicher gestaltet ist. Gut 50 Jahre später entschloss man sich, auf diese Fassade einen noch höheren Turm zu setzen – das Straßburger Münster war für Jahrhunderte das höchste Gebäude der Welt und galt als Weltwunder (Abb.2).
Die meisten Kathedralen sind nun schon über 800 Jahre alt. In der Ile-de-France wurde keine  von ihnen zerstört – im Gegensatz zu den Ordenskirchen. Keine musste einem Renaissance- oder Barock-Neubau weichen. Selbst die Kathedrale der Hauptstadt wurde nicht angetastet, obwohl die französischen Könige das Geld für einen Neubau gehabt hätten. Denn Notre-Dame hatte einen hohen Erinnerungswert, ebenso die Krönungskathedrale in Reims oder das Marienheiligtum in Chartres. Diese Einstellung führte dazu, dass man die von den Hugenotten 1568 großteils zerstörte Bischofskirche von Orléans in gotischen Formen rekonstruierte, und das auch noch unter dem ‚roi soleil‘ Ludwig XIV. (1638-1715), dem Erbauer von Versailles.
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Die Hauptmühen der nachgotischen Jahrhunderte galten der Pflege und Reparatur der Bauten. Doch führten der Wandel der Frömmigkeit und der gesellschaftlichen Strukturen auch zu Veränderungen. So nutzte man z.B. in Amiens nach und nach die Räume zwischen den Strebepfeilern für Kapellen der Zünfte und Bruderschaften. Nachdem die Kapellen vergeben waren, begann man, den Kirchenraum mit Altären und Denkmälern zu füllen. Immer mehr und zunehmend anspruchsvollere Grabmäler und Gedächtnisstiftungen, Bildwerke und Tafelmalereien bedeckten mit der Zeit große Teile der Pfeiler und Wände. Tapisserien, die in den Schlachten erbeuteten Fahnen sowie Votivgaben aller Art verhängten die Räume.
Der Klerus umgab den Chorraum mit hohen Schranken und Lettnern. Auf dem Konzil zu Trient (1545-1563) wurde jedoch untersagt, den Gläubigen die Sicht auf das Altarsakrament zu versperren. Damit begann der Prozess der Purifizierung, der bis heute andauert. Die meisten Gräber, Altäre und andere hindernde Einbauten wurden entfernt. Viele der dunkel gewordenen Farbfenster ersetzte man durch hellere Gläser. Man wollte die Verquickung des Sakralen mit dem Weltlichen beenden und die Architektur in ihrer ursprünglichen Reinheit sichtbar machen. So sehr man den Verlust vieler Kunstwerke bedauern mag, muss man doch zugeben, dass auch wir heute kaum die damalige Überfüllung der Kirchen mit Erinnerungsmalen tolerieren würden.
Um 1500 geriet die Gotik durch den Eindruck, den die großen italienischen Renaissancekünstler machten, in die Defensive. Zwar waren die Bürger weiterhin stolz auf ihre Kathedralen und hüteten sie. Doch wusste man nichts über sie und übernahm die falschen Vorstellungen der Italiener über den barbarischen Ursprung ihres Stils. Sie galten als großartige, aber  befremdliche Monumente aus düsterer Vorzeit. Dass die Gewölbe- und die Fenstertechnologie der Neuzeit von der Gotik übernommen waren, überging man. Zwar finden sich durch alle Jahrhunderte und in allen Ländern Stimmen, die die Architektur der Kathedralen loben, zuweilen in den höchsten Tönen.[5] Sie blieben aber in der Minderzahl, weil der gesellschaftliche Konsens nur das von dem antiken Theoretiker Vitruv hergeleitete Regelwerk zuließ.
Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung und der Industriellen Revolution erfuhren die Kathedralen – und mit ihnen die Gotik überhaupt – in Frankreich, dem Land ihrer Entstehung, eine höchst negative Bewertung, vor allem in den Akademien und anderen offiziellen Institutionen. Ihre Architektur galt als regelwidrig und roh, als unkünstlerisch und irrational. Die Aufklärer meinten, die Wahrheit gepachtet zu haben, viele von ihnen waren intolerante Dogmatiker. Das entlud sich schließlich im Vandalismus der Jakobinerära. Die Französische Revolution wandelte die Kathedralen zeitweilig in ‚Tempel der Vernunft‘ um, vernichtete fast alle königlichen Statuen, Insignien und Wappen, zerstörte die Bauten aber nicht.
In England dagegen bildete sich damals ein neues Verständnis der Natur und zugleich der baulichen Reste des Mittelalters. Es mündete in die Bewegung des ‚Gothic Revival‘. Die zuvor an der Gotik getadelte Rohheit und ihre Nähe zur Natur galten nun als herausragende Qualitäten. Man löste sich von der idyllischen Naturauffassung mit ihren Gartenarabesken, ebenso von dem als dekadent und albern getadelten Rokoko und suchte vor allem das Erhabene, Übermächtige, Schaurige in der Natur und in den Denkmälern grauer Vorzeit; man begeisterte sich für die Gewalt der Meereswogen und die feierliche Einsamkeit des schneebedeckten Hochgebirges oder der Wüsten, aber ebenso für die Grüfte alter Burgen und die schwindelerregende Höhe gotischer Kirchenräume. Der Weltreisende Georg Forster besuchte im Jahre 1790 den Kölner Dom, „um die Schauer des Erhabenen zu fühlen. Vor der Kühnheit … stürzt der Geist voll Erstaunen und Bewunderung zur Erde, dann hebt er sich wieder mit stolzem Flug…“[6] Die ungezähmte Natur und die Ruinen mittelalterlicher Baukunst weckten gleichermaßen erhabene Gefühle. Man konzipierte einige englische Landschaftsgärten um vorhandene Ruinen herum oder verteilte Trümmer verfallener Bauten in den Parks, um den kalten Hauch der Geschichte zu spüren. Einige Herren begannen, ihre Landsitze im gotischen Stil zu errichten. Um die Kathedralen herum schuf man große begrünte Freiflächen: Architektur und Natur wurden als eins empfunden.
Damals glaubten die Engländer, die Gotik sei in ihrem Land entstanden und folglich ihr Nationalstil. Die Kathedralen wurden zu nationalen Andachtsorten. Ähnliches geschah in Deutschland. In seinem berühmten Pamphlet „Von deutscher Baukunst“ ereifert sich der junge Goethe im Jahr 1772 über die französisch-italienischen Geschmacksnormen, die die Straßburger Münsterfassade als „mißgeformtes, krausborstiges Ungeheuer“ aburteilten (Abb.2): “Und nun soll ich nicht ergrimmen heiliger Erwin,[7] wenn der deutsche Kunstgelehrte auf Hörensagen neidischer Nachbarn … dein Werk mit dem unverstandenen Wort gotisch verkleinert, da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können, das ist deutsche Baukunst, unsere Baukunst…“[8] Programmatisch stellt er der „Lehre neuerer Schönheitelei … das bedeutende Rauhe“ gegenüber.
Kein Bau gleicht einem anderen. Erst die spätere Wahrnehmung hat aus den verschiedenen Bauten „Die Kathedrale“ als Idealtypus konstruiert und zum Inbegriff der Sakralbaukunst verklärt. Das hatte Rückwirkungen auf die Bauten: Sie wurden ‚restauriert‘.  Man wollte sie in den Urzustand zurückversetzen, was nirgends gelungen ist und niemals gelingen konnte, weil immer die eigenen Kunstideale in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden. Entsprechend dem modernen Ideal des solitären Monumentalbaus legte man alle Bauten der Nachbarschaft nieder, auch künstlerisch hochrangige Paläste und Kirchen, um die Kathedrale als heroisch isoliertes Ungeheuerliches herauszuheben. Man hat sie dadurch urbanistisch isoliert, so dass manche Bauten vom Leben ihrer Städte abgeschnitten sind. Wer heute erfahren will, wie dicht umringt von Häusern, Läden und Kneipen sie einst waren, muss die Antwerpener Kathedrale besuchen.
Es bildeten sich nicht nur unterschiedliche Meinungen zur ‚Nationalität‘ der Kathedralbaukunst, sondern auch entgegengesetzte politische Deutungen. Dies wird in Frankeich besonders deutlich. Als Reaktion auf die Attacken gegen die Religion und die Zerstörungen christlicher Bau- und Kunstwerke stellte Chateaubriand in seinem 1801 erschienenen Buch „Génie du Christianisme“ die Kathedrale als Sinnbild einer frommen, auch sozial befriedeten, heilen Welt heraus. Auch er spürte bei ihrem Betreten einen Schauer des Erhabenen, aber auch des Göttlichen. Für ihn ist die Gotik die der christlichen Religion angemessenste Architektur, allen anderen Stilen überlegen. Diese neokatholische, oft zugleich monarchistische Deutung der Kathedralen findet bis heute Anhänger: Der französische Dichter Joris Karl Huysmans gehört mit seinem Roman ‚La cathédrale‘ von 1898 dazu, ebenso der Kunsthistoriker Emile Mâle mit seinem im selben Jahr erschienenen Werk: L’art religieux du XIIIe siécle. Charles Peguy organisierte Wallfahrten nach Chartres, um seinen irrational und nationalistisch eingefärbten Katholizismus zu propagieren.
Die Kathedralen wurden in fast allen Ländern Europas zu nationalen Symbolen, St. Stephan in Wien, der Veitsdom in Prag usw. Als die Deutschen im Ersten Weltkrieg die Kathedrale von Reims in Brand schossen, fühlte sich die ganze französische Nation getroffen.
Nachdem in Deutschland der Glaube aufgegeben werden musste, dass die Gotik deutschen Ursprungs sei, begann ein Streit, welcher Konfession der Kölner Dom gehöre (Abb.3). Die Protestanten wollten sich nicht auf die von Friedrich Wilhelm IV. als konfessionsübergreifend gepriesene frühchristliche Architektur beschränken und die Gotik nicht den Katholiken überlassen. Im ‚Eisenacher Regulativ‘ von 1861 wurde sie zum evangelischen Normstil erhoben. Doch konnte man nicht verhindern, dass der Kölner Dom weiterhin primär als katholisch eingestuft wurde. Zwar zog die katholische Kirche es vor – nicht ohne Druck von preußisch-protestantischer Seite  –, auf die Neoromanik als eigentlichen katholischen Kirchenstil  auszuweichen. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter Konrad Adenauer der Kölner Dom zum Symbol der katholischen Restauration. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr lieferte dazu zwei einander ergänzende Bücher, 1948 den „Verlust der Mitte“, eine Kritik an der modernen Kunst und Gesellschaft sowie 1950 “Die Entstehung der Kathedrale“ als ideologische Wegweiser zu einem neuen christlichen Europa.
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Die französische republikanische Opposition entwickelte eine eigene Theorie zur Entstehung und zum Wesen der Kathedrale, die vor allem durch den 1831 erschienenen Roman „Notre-Dame de Paris 1482“ von Victor Hugo popularisiert wurde. Demnach sei die Gotik, kulminierend in den Kathedralen, eine Architektur des Volkes bzw. der ganzen Gesellschaft, wohingegen die Renaissance und der Barock eine Herrschaftsarchitektur der feudalen Klasse seien. Sein Bild von den Kathedralen wird geprägt von der Abneigung gegen den aus Italien übernommenen Stil, den er als ‚Kremtorten-Kunst‘ verhöhnte. Die Kathedrale hingegen galt Hugo nicht als Werk von Architekten, sondern als das eines namenlosen Kollektivs.
Der einflussreiche Architekt, Restaurator und Bauhistoriker Viollet-le-Duc modifizierte Hugos Theorie: Im Zwiegespräch  mit Ludovic Vitet entwickelte er die Idee, die gotische Kathedrale sei das Werk der kommunalen Bewegung. Er betonte ihre technischen Neuerungen, ihre Rationalität und Funktionalität und deutete sie als Indizien für das Vorwiegen der bürgerlichen Mentalität. Die Gotik war für ihn der Stil des ökonomischen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritts und deshalb Vorbild für die eigene Zeit. Durch ihn wurde die Neogotik zur zeitgemäßen Ausdrucksweise und zum Ausgangspunkt des Funktionalismus.
Die letzte künstlerische Bewegung dieser Tendenz ist das von Walter Gropius 1919 gegründete Bauhaus. Das Titelblatt seines Manifestes wurde mit dem Holzschnitt Lyonel Feiningers „Die Kathedrale des Sozialismus“ versehen (Abb. ??).“ Die dort formulierte Utopie einer Einheit von Kunst, Handwerk und Gesellschaft ist von der englischen Arts and Crafts-Bewegung übernommen. Das religiöse Element kommt nur noch in der ordensähnlichen Gemeinschaftlichkeit der Bauhaus-Mitglieder und in der visionären Hingabe an ein höheres Ideal zum Tragen, hat aber mit der Religion, die die Menschen zur Errichtung der Kathedralen trieb, nichts mehr zu tun. Bemerkenswert ist, dass die Kathedrale, die jahrhundertelang als antiquiert und überholt misshandelt wurde, nun zum Symbol des Fortschritts, ja zum utopischen Modell einer besseren Zukunft wird.
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Der Kölner Dom lehrt beispielhaft, wie sich Einstellungen binnen weniger Jahrzehnte ändern konnten: Im Jahre 1560 hatte man aufgegeben, an dem Riesenwerk weiterzubauen, versäumte aber auch, es angemessen zu pflegen. Der Bau verfiel zusehends, und zur Zeit der Regierungs-Übernahme durch Preußen stand der Zusammenbruch einzelner Teile unmittelbar bevor. Als man im Jahre 1806 einen der mittelalterlichen Pläne für die noch nicht vollendeten Teile fand, und in den folgenden Jahren noch weitere, kam die Idee auf, den Dom zu vollenden. „In seiner trümmerhaften Unvollendung, in seiner Verlassenheit ist er ein Bild gewesen von Teutschland seit der Sprach- und Gedankenverwirrung: so werde er denn auch ein Symbol des neuen Reiches, das wir bauen wollen.“[9] Die Vollendung des Domes sollte das immer noch in viele Länder aufgeteilte Deutschland einigen sowie die konfessionelle Spaltung und die sozialen Gegensätze überwinden – hoch gesteckte utopische Ziele!
Die Romantiker haben die bisherige Bewertung der Stilepochen umgekehrt. Ernst Moritz Arndt spricht in seinem Brief vom 3. September 1814 an die Betreiber der Domvollendung, die Brüder Boisserée in Köln, vom Mittelalter als „jener schönen Zeit unseres Volkes, deren Gedächtnis seit drei Jahrhunderten mehr und mehr verdunkelt war, und von welcher jetzt kaum eine leichte Morgendämmerung wieder erscheint…Alle redlichen Deutschen haben wohl zu arbeiten, daß die Denkmäler … jener Zeit, welche noch übrig sind und an welchen allein das neue Zeitalter sich aufrichten und emporarbeiten kann, erhalten und erneut werden; denn leider die meisten Regierungen arbeiten nur zu sehr dahin, alle Örtlichkeiten und Zeitlichkeiten bis zur Gleichheit des Erbärmlichen auszulöschen und durch ein papierenes Regiment der Schreiber auch die Herzen der Menschen papieren zu machen. Reif sind die Herzen der Menschen zu vielem, begriffen ist durch das Resultat von drei traurigen Jahrhunderten seit der Reformation, daß das Alte freilich nicht in seine vorige Gestalt zurückkehren kann, daß aber das sogenannte Neue meistens ganz veraltet ist, und daß also in allem, was der Menschheit das Heiligste ist, in der Religion, der Verfassung, dem Leben der Menschen etwa Neues werden und sich entwickeln muß.“[10]
„Dass der Kölner Dom das Nationaldenkmal der Deutschen schlechthin war, stand bald außer Frage. Weit weniger fraglos war jedoch, wovon er Denkmal war und wofür, denn zwischen 1814 und 1842 [dem eigentlichen Beginn der Rekonstruktionsarbeiten] haben sich infolge der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland die Fronten immer neu verschoben. Im Zuge der … Restauration traten die freiheitlich-demokratischen Intentionen der Domvollendung von 1814 bald völlig in den Hintergrund, und auch der Bau selbst rückte in völlig neue Bedeutungszusammenhänge.“[11] Dazu gehörte auch die im Jahr der Grundsteinlegung publizierte Entdeckung, dass die Gotik nicht deutschen, sondern französischen Ursprungs sei. Auch die Hoffnungen, der Weiterbau des Domes könne die Herrschaft Preußens den Rheinländern schmackhaft machen oder gar die Konfessionen miteinander versöhnen, erwiesen sich als Illusionen. Der Kölner Domklerus bestand darauf, der Kölner Dom sei eine katholische Bischofskirche und habe nichts mit dem Protestantismus zu tun. Seine konservativen Machenschaften provozierten die republikanischen und kritischen Köpfe, die den Weiterbau ablehnten. Heinrich Heine machte sich 1844, zwei Jahre nach dem Wiederbeginn der Bauarbeiten, in seinem Gedichtzyklus „Deutschland ein Wintermärchen“ zum Sprecher dieser Kreise und schrieb u.a. diese Verse über den Dom zu Köln:
Er sollte des Geistes Bastille sein,[12]
Und die listigen Römlinge dachten:
In diesem Riesenkerker wird
Die deutsche Vernunft verschmachten!

Da kam der Luther, und er hat
Sein großes ‚Halt!‘ gesprochen –
Seit jenem Tage blieb der Bau
Des Domes unterbrochen.

Er ward nicht vollendet – und das ist gut.
Denn eben die Nichtvollendung
Macht ihn zum Denkmal von Deutschlands Kraft
Und protestantischer Sendung.
Der Gedanke der Vollendung der Kathedrale als symbolischer Akt ist Thema eines im Jahr der Befreiung von Napoleons Herrschaft 1815 geschaffenen Tafelgemäldes Karl Friedrich Schinkels in der Berliner Nationalgalerie (Abb.4). Die Mitte nimmt eine riesige Kathedrale ein, die die Domfassaden von Köln und Straßburg verschmilzt und mit einigen französischen Motiven ergänzt, wodurch gezeigt wird, dass sie übernational ist.[13] Sie ist auf einem Hügel zwischen der Burg links und der Stadt rechts platziert und verbindet sie symbolisch. Sie liegt inmitten eines Eichwaldes, womit die Naturwüchsigkeit des gotischen Stils angedeutet wird und seine Verwurzelung in der heroischen germanischen Vorzeit. Rechts unten im Wald erkennen wir einen Eremiten, ein hochmittelalterliches, von den Romantikern geschätztes Motiv. Der Nordturm ist unvollendet, doch ist die Bautätigkeit im Gange. Die vom Turm wehende, große preußische Fahne besagt, dass die Vollendung unter der Ägide Preußens stattfindet.[14] Der zur Kathedrale ziehende Kaiser ist mit seinem Gefolge in spätmittelalterliche Tracht gekleidet, kann sich also nicht auf einen gegenwärtigen Herrscher beziehen;[15] seit der Abdankung Kaiser Franz II. 1806 gab es keinen deutschen Kaiser mehr. Doch wird hier suggeriert, dass der König von Preußen die Aufgabe übernehmen werde, als neuer Kaiser Deutschland zu vereinigen. Dass das Ganze sich auf die Gegenwart bezieht, erkennt man an der zeitgenössischen Kleidung einiger Zuschauer. Ein Unwetter zieht ab, womit das Ende der napoleonischen Besetzung gemeint sein dürfte; ein Regenbogen, wie er Noah nach dem Ende der Sintflut erschien, verheißt eine glänzende Zukunft. Die Burg links ist dem Schloss in Marburg nachempfunden. In der Stadt erkennen wir Bauten aus verschiedenen Teilen Deutschlands, u.a. das Ulmer Rathaus, die Regensburger Donaubrücke, den Nassauer Hof in  Nürnberg usw. Dadurch wird die Stadt zu einer Allegorie der Einheit des ganzen Landes.
Immer neu entfalten die Kathedralen  starke emotionale Wirkungen, doch bleibt es heutzutage meist nur bei einem ästhetischen Erlebnis. Man ist weit davon entfernt, sie zu begreifen. Erstaunen verbindet sich mit Sprachlosigkeit. Deshalb lassen sie weiter das Mittelalter als dunkel, geheimnisvoll und phantastisch erscheinen, nicht aber als Lebensmodell.[16]


Abbildungen
1. Amiens, Kathedrale, Blick nach Osten
2. Straßburg, Münster, Westfassade
3. Wilhelm v. Abbema, Köln, Dom, Südturm der Westfassade, Radierung,1842
3. Karl Friedrich Schinkel, Einzug in die Kathedrale, 1815, Berlin, Nationalgalerie SMPK
4.Wenn möglich: Lyonel Feininger, Die Kathedrale des Sozialismus, 1919


Literatur (chronologisch)
Der Kölner Dom, Festschrift zur Siebenhundertjahrfeier 1248-1948, herausgegeben vom Zentral-Dombau-Verein, Köln 1948.
Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950.
Paul Frankl: The Gothic. Literary Sources and Interpretations through Eight Centuries, Princeton 1960.
Otto v. Simson: Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt 1968.
Georg Germann: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974.
Norbert Huse (Hrsg.): Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München1984.
Willibald Sauerländer: Das Jahrhundert der großen Kathedralen 1140-1260, München 1990 (Universum der Kunst 38).
Sauerländer, Willibald: La cathédrale et la Révolution,in: L’Art et les Révolutions, Conférences plénières, in: XXVIIe Congrès International d’Histoire de l’Art, Straßburg 1990, S. 67-106.
Dieter Kimpel, Robert Suckale: Die gotische Architektur in Frankreich 1130‑1270, Mümchen 21995.
Mario Kramp: Heinrich Heines Kölner Dom. Die „armen Schelme vom Domverein“ im Pariser Exil 1842-1848, München, Berlin 2002.



[1] Näheres bei: Kimpel, Suckale.
[2] Kimpel, Suckale, S. 28.
[3] Otto Winckelmann: Zur Kulturgeschichte des Straßburger Münsters im 15, Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 61, 1907, S. 247-290, hier: S. 267ff.
[4] Kimpel, Suckale, S. 28.
[5] Frankl,  z.B. S. 394.
[6] Huse, S. 32.
[7] Gemeint ist der Baumeister des unteren Teils der Münsterfassade, Erwin von Steinbach.
[8] Johann Wolfgang v. Goethe: Von Deutscher Baukunst. D.M. Ervini a Steinbach, 1773, in: Ders.: Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 16: Schriften zur Kunst I, Stuttgart 1961, S. 11-20, hier: S. 17.
[9] Joseph Görres 1813, nach Huse, S. 44.
[10] Der Kölner Dom 1948, S. 209.
[11] Huse, S. 39f.
[12] Die Bastille war eine Pariser Zwingburg aus dem 14. Jahrhundert. Mit ihrer Erstürmung und der Befreiung der dort Gefangenen am 14. Juli 1789 beginnt die Französische Revolution im eigentlichen Sinne. Auch ihr Abriss war eine politische Demonstration.
[13] Der Mittelteil der Fassade mit dem Rosenfenster mit 32 Speichen paraphrasiert das Straßburger Münster; Türme und Strebewerk folgen dem Lang- und Querhaus des Kölner Domes. Der oberhalb der Rose vorgeblendete Spitzbogen ist m.W. im deutschen Sprachraum nicht nachweisbar, wohl aber an der Westfassade der Madeleine in Vézelay. Die Bekrönung der Fassade mit einer Galerie, in der Figuren stehen, ist ein Motiv der Reimser Krönungskathedrale, doch ist die Galerie dort nicht durchbrochen. Der Nassauer Hof in Nürnberg schräg gegenüber der Westfassade von St. Lorenz ist im hellen Teil des Hintergrundes rechts von der Kathedrale zu erkennen. Rechts davor im Schatten befindet sich eine kreuzförmige Kirche, deren Vierungsturm der rheinischen Spätromanik zuzurechnen ist, doch kopieren die vier Flankentürmchen im Osten und im Westen den Chorturm von St. Maria am Gestade in Wien. Im Stadtteil rechts vom Fluss meint man die Fassade der Teynkirche am Altstädter Markt in Prag zu entdecken, doch ist diese Partie zu summarisch gemalt, um sie eindeutig identifizieren zu können. Wohl aber kann man feststellen, dass Schinkel in dieser Stadtansicht auf die berühmte Vedute Prags von Ägidius Sadeler aus dem Jahre 1605 ## zurückgegriffen hat.
[14] In der Literatur ist immer vom Reichsadler die Rede; doch handelt es sich um den schwarzen auffliegenden preußischen Adler vor weißem Grund, während der Reichsadler vor Goldgrund und heraldisch frontal stilisiert dargestellt wird.
[15] Der Herrscher trägt einen roten Mantel mit Hermelinkragen, wie zuvor vor allem die Kurfürsten, jedoch keine Krone, so dass eine eindeutige Definition nicht möglich ist, doch ist die Deutung als Kaiser die naheliegendste.
[16] Ken Follett: The Pillars of the Earth, London 1989.

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